Belgienreise 2005


Disput: April 2005

"Ein Land so groß wie ein Taschentuch"

Begegnungen in Belgien - Gedenken, Erinnern, Ermuntern

Von Karsten Görsdorf

Was bedeutet Widerstand? Diese Frage stellte sich uns im Rahmen des Wettbewerbs, der von Dr. Gesine Lötzsch ausgeschrieben wurde. Mein Bruder Steffen und ich kamen zu der Formulierung, dass in der Physik gilt: Widerstand ist gleich Spannung durch Strom. Zur Zeit des Nationalsozialismus galt: Widerstand ist gleich Mut mal Leidenschaft. Doch das waren vor der Reise vom 28. März bis zum 1. April 2005 nach Belgien eher Plattitüden aus dem Wissen der Lehrbücher des Geschichtsunterrichts. Ich denke, dass die Reise in mehreren Ebenen beschrieben werden muss, um ihr gerecht zu werden.

Die Besuche von Gedenkstätten, die Treffen mit Zeitzeugen

Unsere Gruppe, bestehend aus 12 Wettbewerbsteilnehmern und den vier Begleitern Dr. Gesine Lötzsch, Prof. Dr. Heinz Köller, Dr. Klaus Singer und Tinko Hempel, fuhr zu Gedenkstätten, die zur "Mahnmäler-Kette" gehören. Dieses Bündnis von Zentren, Museen und Gedenkstätten hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kenntnisse über die Zeit sowie die Opfer des Faschismus zu vermitteln, um die Gegenwart besser zu begreifen und die Zukunft aktiv mitgestalten zu können.

"Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen Lektionen zu erteilen. Es ist vielmehr Ihre Aufgabe, Schlüsse zu ziehen aus der teuflischen Maschinerie, die hier gewaltet und geschaltet hat." Mit diesen Worten empfängt uns Yvan Verbraeck in der Gedenkstätte Fort Breendonk, das von der SS ausgewählt wurde, um hier ein im Jargon der Verbrecher so genanntes A-Lager zu errichten. Unser sachkundiger Guide ist kein deutscher Muttersprachler und teilt uns deshalb die unfassbaren Grausamkeiten, die deutsche und flämische SS-Schergen an den Häftlingen begangen haben, ohne Umschreibungen unmissverständlich, hart und deshalb nahe gehend mit. Ich empfinde ab dem ersten Moment des Betretens des Forts mit seinen dunklen, nasskalten Gängen ein Gefühl, das sich aus Scham und ohnmächtiger Wut zusammensetzt. Immer wieder kann uns Herr Verbraeck mit Geschichten und Zitaten die Grausamkeit dieses Lagers vermitteln. So begrüßte einer der flämischen SS-Männer die Häftlinge mit den Worten: "Breendonk ist die Hölle und ich bin der Teufel!" Die Personalisierung der Opfer und der Täter lässt mich dieses KZ, denn in der Tat war es eines, als Ort der Menschenverachtung und des Mordes prägender erfahren als in anderen Gedenkstätten, wie Sachsenhausen oder Buchenwald.

Am Nachmittag des gleichen Tages sind wir in Mechelen, um das Jüdische Museum der Deportierten und des Widerstands zu besuchen. In der früheren Dossijn-Kaserne der Belgischen Armee organisierten die Nazis das Sammellager für die Deportation der belgischen Juden nach Auschwitz. Durch die Räume des Museums führt uns Herr Dr. Rothschild. Er hat das Leid zu ertragen, dass seine Mutter und seine Geschwister im ersten Zug waren, der von Mechelen gen Polen fuhr. Nur er und sein Vater überlebten den Holocaust. Mit seiner offensiven Art der Präsentation des Museums vermittelt er mir und wie ich glaube auch den anderen ein Gefühl für das, was es heißt, ein Jude zu sein. Es erfüllt mich mit Ärger, wenn ich daran denke, dass es immer noch Menschen gibt, die das leugnen, was die Verantwortlichen des Naziregimes die Endlösung der Judenfrage nannten.

Am nächsten Tag treffen wir im Nationalen Widerstandsmuseum Michel van der Borght und einige seiner Freunde. Diese unscheinbaren Männer im Rentenalter verkörpern das, was mein Bruder und ich mit der Formel Mut mal Leidenschaft meinten auszudrücken. Van der Borght eröffnet den Rundgang durch das liebevoll eingerichtete Haus mit den Worten: "Entschuldigen Sie mein Deutsch, aber ich war nur 30 Tage in deutscher Gefangenschaft." Obwohl WIR uns eigentlich dafür schämen müssten, dass unser Französisch so mies ist. Ab jetzt folgen Anekdoten, die eines klar werden lassen: Diese Männer haben mehr als einmal ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ihr Heimatland von den faschistischen Invasoren zu befreien.

Im ersten Raum stehen ein schwerer Schraubenschlüssel und ein Kantschuh. Der erste Teil der Geschichte dazu: Die Partisanen wussten um zwei Züge, in denen sich deutsche Offiziere und Soldaten auf der Rückreise vom Urlaub befanden. Mit solchen Werkzeugen, die jetzt vor uns stehen, brachten sie in Verbindung mit Sprengstoff beide Züge zeitgleich zum Entgleisen. Der zweite Teil: Nach dem Krieg war van der Borght in Deutschland und hörte eines Abends in einem Lokal dieselbe Geschichte, nur von einem Mann, der damals im Zug saß - und ein Bein verlor. Ab dem Zeitpunkt, wo der Mann nicht mehr weiter erzählen konnte, ergänzte der Partisan. So begriffen sie, dass beide zum gleichen Zeitpunkt am selben Ort waren. Nur auf verschiedenen Seiten. Obwohl der Belgier mitverantwortlich war für den Verlust, den der Deutsche erlitten hatte, wurden sie Freunde.

Irgendwann wird es diese persönlichen Führungen durch Museen nicht mehr geben, weil die Menschen nicht mehr leben werden. Jedem wird bewusst, dass es unsere Aufgabe ist, diese Geschichten, auf welchem Wege auch immer, zu speichern. Denn nur so können wir für die folgenden Generationen die Erinnerung und das Mahnen wach halten. Sonst kann die andere Seite die Geschichte nach ihrem Bilde umformen. Darum ist dieser Teil der Reise eine Verpflichtung uns selbst gegenüber.

"Dévitation" - Die Stadt Brüssel

Natürlich erkundeten wir während unseres Aufenthaltes auch die Hauptstadt Belgiens. Diese Stadt, 580 gegründet, wagt den Mix aus modernen Glasfassaden-Hochhäusern und mittelalterlicher Fassade. Wahrlich faszinierend ist der Grand Place oder auch Grote Markt, der einen prachtvollen Rahmen aus beeindruckenden Gebäuden bildet. Victor Hugo nannte ihn sogar den schönsten Platz der Welt. Alle Sehenswürdigkeiten allein der Innenstadt zu nennen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Daher nur noch eine Bemerkung. Überall in der Stadt gibt es Umleitungen, "Dévitation", so dass unser sprachkundiger Prof. Dr. Köller oftmals aus dem Bus springen musste, um die Hälfte der Einwohner Brüssels nach dem Weg zu fragen. Daher ein Dank an die hilfsbereiten Menschen dieser europäischen Hauptstadt der Demokratie.

Die Gespräche

Ein weiterer Punkt soll nicht unerwähnt bleiben. Das Besuchen von Gedenkstätten und das Treffen von Zeitzeugen bedürfen der Reflexion, und zwar im besten Fall in der Form eines Dialoges bzw. Gruppengespräches. Dies war in unserer Gruppe möglich. Doch auch andere Themen kamen zur Sprache, so dass für mich als Fazit der Reise bleibt: Nicht alle deutschen Jugendlichen sind soziale Dumpfbacken und Schultestversager. Da wächst eine linke Generation heran, die in der Lage ist, die Zeit des Faschismus in ein europäisches Geschichtsbild einzuordnen und dabei durch aktives Handeln zum notwendigen Erinnern und Mahnen ihren Beitrag zu leisten. Dies wurde uns gewahr, als wir das Land verließen, das von einem der Partisanen so bezeichnet wurde, wie im Titel dieses Artikels zu lesen ist.

 URL: http://archiv2007.sozialisten.de/politik/publikationen/disput/view_html?pp=1&n=2&bs=1&zid=27048